November 2017
von Herrn Prof. Jens Gussek
Instituts für Künstlerische Keramik und Glas der Hochschule Koblenz
Künstler sein, als Künstler leben, bedeutet nichts anderes als in einem aufgeladenen Zwischenraum zu leben. Dieser Raum ist ein Ort mit eigenem Bewusstsein, zwischen künstlerischer Aneignung von Welt und tatsächlichem Leben. Es ist ein kommunikativer Bewegungsraum, der den Künstler, das Ego, die Imagination in Beziehung setzt zur sozialen und materiellen Wirklichkeit.
Miki Lin zeichnet, im weitesten Sinne. Sie benutzt Stifte, was darauf hindeutet. Wahrscheinlich ist das, was sie tut, auch eine Art reduzierte Kalligrafie, ein Reflex auf ihre japanische Herkunft. Vielleicht schreibt sie auch einfach in einer geheimen Schrift, sie notiert Dinge, die ihr ganz wichtig sind, die aber in Verborgenen bleiben müssen. Möglicherweise verwendet sie auch einen universell lesbaren Kode. Auf alle Fälle tut sie das, was sie da tut mit solch großer Ernsthaftigkeit, Hingabe, Leidenschaft und Genauigkeit, dass es unsere Aufmerksamkeit erregt.
Stellen wir uns doch einfach einmal vor, wir seien Japaner und wir kommen zum ersten Mal nach Deutschland und sind der Sprache nicht mächtig. Wir finden eine Zeitung und blättern sie durch. Wir können sie nicht lesen, wir kennen nicht einmal die Buchstaben und doch erahnen wir, was da ungefähr steht. Es handelt sich um News, aber was davon ist eigentlich neu, was haben wir nicht schon einmal irgendwie, irgendwann so oder so ähnlich gesehen und gehört. Jeden Tag eine Autobombe, ein Selbstmordattentäter, ein Amoklauf – das ist alles schrecklich, auch schrecklich in der scheinbaren Normalität des Schreckens und in der steten Wiederholung wird es sehr abstrakt. So abstrakt, dass wir eigentlich auch auf die Bilder verzichten könnten, weil wir sie ja schon im Kopf haben und uns das Frühstück mit Bildern ja nicht besser schmeckt.
…Miki Lin schält die hochentwickelte Schönheit von Satz und Schrift heraus…Sie befreit diese von der Last der Tagespolitik, die diese Eleganz durch die betrübliche Realität unserer Welt verschüttet…
Miki Lin schafft Blätter, die deutlich auf ihre Referenz verweisen. Unverkennbar ist das Layout von Tageszeitungen ersichtlich. Deren Inhalt ist nicht lesbar, es fehlen die Bilder, die uns einen Hinweis geben könnten. Die Neuigkeiten des Tages verschwimmen in Chiffren die nur noch stellvertretend für die Flut an Informationen stehen, die täglich auf uns einströmen. Die konkreten Geschichten werden verlagert in den Bereich unserer Imagination. All die Krisen, Katastrophen, Aktienkurse und royalen Hochzeiten finden nur noch in unserem Kopf statt, lösen sich von der Kurzlebigkeit der Tagesaktualität. Was bleibt ist ein sehr abstraktes Bild, es bleibt die Struktur der Printmedien, eine Struktur, die auch ein Stück Kultur ist, welche in unser digitalen Welt durchaus bedroht scheint. Miki Lin schält die hochentwickelte Schönheit von Satz und Schrift heraus, deren Entwicklung seit Gutenbergs Zeiten. Sie befreit diese von der Last der Tagespolitik, die diese Eleganz durch die betrübliche Realität unserer Welt verschüttet. Und gleichzeitig gibt sie einen vielschichtigen Kommentar dazu ab.
In einer anderen Arbeit betrachtet sie Ludwig Wittgensteins Werk „Tractatus Logico-Philosophicus“ . Wiederum können wir das Werk nicht lesen. Es nicht lesen können heißt auch, es nicht verstehen können. Miki Lin reflektiert so Sprache an sich. Als Bild dafür wählt sie Wittgenstein, der im Traktats die Klärung der Funktionsweise von Sprache betrieb und es in dem Satz: „Alle Philosophie ist ‚Sprachkritik‘ zusammenfasste. Miki Lins Chiffren stehen hier für die Sprache an sich und für das, was sie verbindet. Für das, was in ihr lebt, was durch sie scheinbar definiert wird und natürlich auch, was zwischen den Zeilen verborgen ist. Dieses Zeichnen ist kein Geduldsspiel, es ist ein Denkprozess, ein Nachdenken über Sprache und Bedeutung, über ein Land, über Philosophie. Dabei ist auch interessant, welchen geistigen Raum eine Schlagzeile – in diesem Fall ein Titel – Wittgenstein – eröffnet, praktisch ohne Erläuterung und Handlungsanweisung. Die Bedeutung dieser Auseinandersetzung wird für uns auch spürbar in der ästhetischen Bedeutung, die sie den Zeichnungen verleiht. Miki Lin lebt nicht einfach in einem fremden Land, sie positioniert sich hier, so wie das vielleicht Japaner so zu Eigen ist, anspruchsvoll, nicht adaptiv, sondern reflektiv-innovativ.
März 2017
von Frau Barbara Auer
Direktorin, Kunstverein Ludwigshafen am Rhein
Miki Lin hat in ihrer künstlerischen Arbeit eine ganz eigene Strategie entwickelt, gedruckte Texte in einfache grafische Zeichen zu transformieren. Während sie einerseits über diesen zeichnerischen Abstraktionsprozess die Sinnhaftigkeit von Schrift aufhebt, legt sie gleichzeitig neue Bedeutungsebenen zu offen
…Während sie einerseits über diesen zeichnerischen Abstraktionsprozess die Sinnhaftigkeit von Schrift aufhebt, legt sie gleichzeitig neue Bedeutungsebenen zu offen…
Am augenfälligsten wird dieses Verfahren in der Arbeit – – – (November 2015) von 2016. Die Künstlerin benutzte als Vorlagen für ihre Transformationen alle Titelseiten der Süddeutschen Zeitung des Monats November 2015. Mithilfe von Transparentpapier, das sie auf jede dieser Titelseiten legte, überzeichnete sie mit schwarzer Tinte und in mühsamer Kleinarbeit Zeile für Zeile, Buchstabe für Buchstabe: Schlagzeilen und Überschriften wurden auf diese Weise zu abstrakten, hieroglyphenähnlichen Zeichen; Textblöcke lösen sich nun in zeiligen, wellenartig sich fortsetzenden Klingelstrukturen auf. Die ursprünglichen Nachrichten sind ausgelöscht, die Flächen der Bilder bleiben als leere weiße Bereiche stehen – allein das Datum der jeweiligen Ausgabe ist noch erkennbar. Die 26 Titelseiten eines Monats WeItgeschehen im Spiegel der Presse unterscheiden sich jetzt kaum mehr voneinander, sie sehen im Grunde alle gleich aus. Es drängt sich die Frage nach der tatsächlichen Relevanz tagtäglich generierter Nachrichten auf, die morgen schon wieder vergessen und von den nächsten Schlagzeilen längst überholt sind. Ihr künstlerisches Konzept, das auf dem Unkenntlichmachen von Schrift – und damit der Verbindung von Zeichen und Bedeutung – basiert, wendet Miki Lin in modifizierter Form auch bei anderen Arbeiten an, überträgt es beispielsweise auf den Berliner Stadtplan oder einen Deutschen Reiseatlas. Die Künstlerin hat mit ihrer äußerst filigranen Zeichentechnik eine ganz eigene Bildsprache entwickelt: Über die Methode der Dekonstruktion entlarvt sie die Kopplung von Zeichen und Sinn als Konvention und Setzung und führt uns damit unsere eingeschränkte, mitunter sehr eindimensionale Form der Wahrnehmung vor Augen. Miki Lins Zeichnungen erscheinen dabei zugleich als eine Aneignung von Welt, die etwas kindlich Unschuldiges hat – denn die ruhigen, gleichförmig verlaufenden Kringelstrukturen erinnern auch an das Imitieren von Schrift, wenn man des Schreibens und Lesens noch nicht mächtig ist.
15. July 2015
Review from Rhein-zeitung
von Frau Lieselotte Sauer-Kaulbach
»….Unter der Überschrift „Leap“ zeigen sie ihre Arbeiten an drei Orten in Koblenz und Höhr-Grenzhausen. Alle sieben tendieren zur freien Kunst, frei auch in der Wahl der Materialien, die dem künstlerischen Konzept entsprechen so wie die in New York geborene, in Tokio auf-gewachsene und nun in Berlin lebende Miki Lin. Statt Ton verwendet sie transparentes Papier für ihre in der Galerie Barbara Gröbl präsentierte Masterarbeit. Diese besteht aus Papier, auf das sie in einer Art meditativem Akt Zeitungsseiten, einen Text Ludwig Wittgensteins oder die 106 Seiten eines Autoatlas übertragen hat.
…Zeichen und Zeilen bleiben bewusst allen Inhalts, des eindeutigen Bezugs zu einem Bezeichneten beraubt. Sie wolle, meint Miki Lin, so gegen die in und mit Worten zementierte Macht der Logik rebellieren…
Zeichen und Zeilen bleiben bewusst allen Inhalts, des eindeutigen Bezugs zu einem Bezeichneten beraubt. Sie wolle, meint Miki Lin, so gegen die in und mit Worten zementierte Macht der Logik rebellieren.
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